Günther
Thiersch
09. Juni 1914 - 17. Oktober 1986
Werner Klose
Studium der Germanistik und Geschichte
Studienkollege
Schriftsteller
'Schlesier'
St. Peter-Ording
Annäherung an einen Lebenslauf: Günther Thiersch
Der Maler Günther Thiersch wurde am 9. Juni 1914 im schlesischen Neumarkt geboren. Ist er deshalb schon Schlesier? Nicht im genetischen Sinne. Die Vorfahren Thiersch’s stammten aus dem benachbarten Böhmen, und die Großeltern waren als Strumpfwirker im Thüringischen tätig. Dem Vater war es nicht leicht geworden, sich aus dieser Umwelt zu entfernen, um Architekt und Baumeister zu werden. So kam er über Posen nach Neumarkt, und auch als er dort eine Sächsin heiratete, blieb sicher die Abkunft von mitteldeutschen Stämmen bewahrt, aber im engeren Sinne ist Günther Thiersch erst durch Kindheit und Jugend zum Schlesier "geworden".
Denn neben der biologischen Herkunft ist nicht minder wichtig, welche Kulturlandschaft ihn prägte. Vielleicht bekennt sich niemand unmittelbarer zu einer "Heimat" als in seinen Träumen: "Seit dem Kriegsende spielen alle meine Träume in Schlesien und vornehmlich in Neumarkt, das dann immer von Polen bewohnt wird, die alle deutsch verstehen und die sich in diesen Traumreisen nach Hause allmählich in die mir damals bekannten Deutschen zurückverwandeln.“
Allen Schlesiern erscheint der Lebensraum ihrer Jugend heute besonders weit, weil die moderne Verkehrstechnik ihn nicht zerschnitten und erschlossen hatte. Aber Vater Thiersch besaß schon ein Auto, und so lernte die Familie auch die weitere Umgebung Neumarkts kennen. Für die engere Welt um die Kleinstadt war das Fahrrad ideal geeignet. Die Weite der mittelschlesischen Ackerebene mit den herbstlich kahlen Feldern, die Oder mit ihren waldreichen Ufern, die Berge und Täler der Sudeten waren dem Gymnasiasten als erwanderte, erkundete Heimat vertraut.
Aber Jugend ist nicht nur Freizeit, sondern auch die Zeit geplanten Lernens. Die preussischen Gymnasien hatten auch in Kleinstädten eine Qualität, die sich mit grossstädtischen Schulen messen konnte, weil die zentral prüfenden Oberschulkollegien in allen Provinzen das von Berlin aus kontrollierte Niveau hielten. Günther Thiersch profitierte von der Reformpädagogik der Weimarer Republik, die unter ärmlichsten Bedingungen, allen politischen und sozialen Krisen zum Trotz, ein Bildungswesen entwickelte, an das die Pädagogen noch vierzig Jahre später engagiert anknüpfen konnten. So führte der Kunsterzieher Theo Dames, ein Schüler und Freund Otto Müllers, in die bis zur Hektik dynamische Kunstszene der zwanziger Jahre ein, und Studienrat Großmann, der Deutschlehrer, stellte sich mit seinen Primanern der modernen Literatur; "Wir lasen und lasen, ein unerschöpfliches Bildungsreservoir."
Neumarkt liegt zwischen Breslau und Liegnitz, zwischen Katzbach und Weistritz, die wie alle Flüsse Schlesiens zur bäuerlich breithüftigen Oder fließen. Neumarkt galt im Hochmittelalter als Modell deutschen Stadtrechts, weit nach Osten wirkend. Nirgendwo in Ostmitteleuropa gab es diese stetige, weitgehend friedliche Entwicklung wie im slawisch-deutschen Siedlungsraum der schlesischen Piasten. Der Loslösung von Polen folgte die Orientierung nach Böhmen und Österreich, wo von Prag aus Johann von Neumarkt als Kanzler Karls des IV. durch seinen Briefwechsel mit den geistigen Größen seiner Zeit dazu beitrug, den Frühhumanismus zu fördern und eine einheitliche deutsche Schriftsprache zu verbreiten.
Unter Habsburgs Doppeladler lebten viele Nationen zusammen. Germanische Vitalität, romanische Ratio und die Gemütstiefe und Sinnlichkeit der Slawen verbanden sich im Schlesier in Jahrhunderten zur "breiten Natur“" die auch preußische Pflichtethik auf ihre Weise verinnerlichte. Der schlesische Raum ließ Kräfte entstehen, die sich kulturell in bedeutsamen Beiträgen zur Mystik und zum Barock, zur Aufklärung und Romantik äußerten. Wer aber von hier in die Moderne aufbrach, wußte auch immer, woher er kam.
Günther Thiersch war erst fünfzehn, als er 1929 in einer Buchhandlung Aquarelle und Zeichnungen ausstellte. Er wollte Deutsch und Kunst studieren, hieß es im Abiturzeugnis. Was er bis dahin alles aufnahm vom Kulturraum Schlesien, was er erst viel später verarbeitete, lässt sich schwer abschätzen. Denn da gab es eine Gegenwelt, die seinen Lebenslauf für lange Zeit ablenkte. Er war drei Wochen vor dem Attentat auf das österreichische Thronfolgerpaar geboren worden. "Jetzt oder nie!" hatte Wilhelm II. die Meldung aus Sarajewo kommentiert.
So wurden bereits Kindheit und Jugend von Günther Thiersch durch einen Weltkrieg und seine Folgen geprägt. Als er die Reifeprüfung bestanden hatte, warf bereits die Diktatur auch über seine Zukunft drohende Schatten.
Denn der junge Mann aus Neumarkt war seit Sextanertagen, wie viele Binnenländer, fasziniert von der Seefahrt. Um ihr wenigstens nahe zu sein, wollte er in Danzig Schiffbau studieren. Doch das war nur ein Vorwand, um unmittelbar mit der Seefahrt in Berührung zu kommen. Er heuerte auf allen möglichen Seelenverkäufern an und erlebte endlich das ersehnte Abenteuer, die Welt der Schiffe und Häfen, der Seeleute und Heuerbaase. Doch dieses ungebundene Vagabundenleben endete schon 1936 mit der Einberufung zur Marine.
Als das angeblich grossdeutsche Reich geistig immer kleiner wurde, schien Günther Thiersch auf den Fahrten der Auslandskreuzer genau die "weite Welt" kennen zu lernen, von der er als Junge geträumt hatte.
Nachdem in Europa erneut die Lichter ausgingen, wurde die Seefahrt zur Feindfahrt, und der Feind schoss zurück. Bordwaffen verletzten beide Beine und Arme, und er wird an den Folgen ein Leben lang zu tragen haben. 1943 hatte der junge Seeoffizier geheiratet, aber als er 1945 entlassen wurde, war er plötzlich ein schon älterer Mann, der keinen bürgerlichen Beruf erlernt hatte. Er begann 1946 das Studium der Kunst und Geographie in Hamburg. Es war das Jahr, in dem Wolfgang Borchert in Hamburg die Symbolfigur dieser Generation erfand, den Unteroffizier Beckmann, der nach Hause will, der die Verantwortung abgeben will und doch "draussen vor der Tür" bleibt.
Als ich Günther Thiersch im Studienseminar Lübeck 1950 erstmals traf, war er mit 36 unser Senior, und ich gehörte mit 27 trotz langer Soldatenzeit noch zu den jüngeren Studienreferendaren. Wir beiden Schlesier waren uns zwar in freundlicher Kollegialität verbunden, doch viele Jahre vergingen, bis ich ihn in St. Peter-Ording wieder sah. Erst der Gegenbesuch brachte die entscheidende Vertiefung: in Pinneberg entdeckte ich den Maler Günther Thiersch!
Auch hatten wir zwischen 1952 und 1964 nach dem Staatsexamen durchaus ähnliche Aktivitäten im Lehrerberuf entwickelt. Nach Erzählversuchen und Arbeiten zum Hörspiel hatte ich in zeitgeschichtlichen Sachbüchern beschrieben, was mit uns in einer Erziehungsdiktatur geschehen war. Günther Thiersch verband naturwissenschaftliche Exaktheit mit kreativer Grafik in einem modernen Unterrichtswerk für Geographie. So war ich dankbar, als ich 1965 im Hamburger Kunstzentrum seine erste Ausstellung mit Gedanken eröffnen durfte, die ich heute dem Siebzigjährigen in Erinnerung rufe. Vordergründig geurteilt, war Günther Thiersch ein "Spätentwickler", der mit 51 erstmals seine Bilder zeigte. Das Haar an den Schläfen ergraut, auf den Stock gestützt, so stand er damals verlegen im Kreise der meist jugendlichen Galeriebesucher. Er war menschlich und beruflich manchen Umweg gegangen, hatte die Erfahrungen der zweiten Kriegsgeneration dieses Jahrhunderts zu verarbeiten.
Aber was damals wie ein Spätwerk aussah, entwickelte sich zum Beginn eines nun zwanzigjährigen Lebenswerks, und wir alle wissen, dass Günther Thiersch weiterarbeitet.
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Portrait Günther Thiersch, Bleistiftzeichnung, 5x 6 cm,
von Pedro Lima, Paris
1943