Günther
Thiersch
09. Juni 1914 - 17. Oktober 1986
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Portrait Günther Thiersch, Bleistiftzeichnung, 5x 6 cm,
von Pedro Lima, Paris
1943
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Technische Komposition
"Musikmaschine", 1965
Öl auf festem Malgrund
80 x 70 cm,
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Technische Komposition
"Charleroi", 1968
Öl auf Leinwand
120 x 100 cm,
Dr. Werner Timm
Kunsthistoriker
Direktor des Museums
Ostdeutsche Galerie,
Regensburg
Eröffnungsansprache zur Ausstellung am 09. Juni 1984 in der Kreissparkasse Pinneberg
Zu zwei Bildern von Günther Thiersch
in der Ostdeutschen Galerie Regensburg
Bevor sich Günther Thiersch der Kunst zuwandte, wurde für ihn die Begegnung mit der modernen Technik während der Danziger Semester und der Seefahrtzeit zu einem für seine Entwicklung wesentlichen Erlebnis. Diese verschiedenartigen Orientierungen im Lebenslauf bieten eine gewisse Erklärung dafür, dass im Werk von Günther Thiersch zwei extrem gegensätzliche Welten aufeinander stoßen: die rationale der Technik und die irrationale von Phantasie und Kunst. Noch im Banne einer schier unfassbaren Wirklichkeit von Krieg und Nachkriegszeit drängt es den Künstler Thiersch ins Phantastische, Surrealistische. Die Bilder von Musikautomaten bilden dafür charakteristische Beispiele. In diesen werden technisch-konstruktive Formen in einer phantastischen Metamorphose ins Organische gewandelt, so dass man von der seltsamen Verschmelzung eines Automaten mit einem menschlichen Schädel sprechen konnte. Gewohnte Formen werden verfremdet, es entstehen verschlüsselte surrealistische Metaphern; voll unheimlicher Dämonie erscheint ein technisches Produkt, makabres hintergründiges Porträt eines Musikautomaten.
"Charleroi“ ist der Titel eines Stadtbildes, das am Ende der dominierend surrealistisch orientierten ersten Phase des Oeuvre von Günther Thiersch steht. Zwei Erlebnisebenen verbinden sich in diesem Falle: Einmal das unmittelbare, “erschreckend schöne“, Erlebnis einer Industriestadt, wie sie Thiersch schon früh auf Ferienfahrten durch das Ruhrgebiet oder das oberschlesische Revier kennengelernt hatte, zum andern war es das Gedicht ,,Charleroi“ von Verlaine, das den Primaner so tief beeindruckte, dass er es vor Ergriffenheit gleich auswendig lernte:
Charleroi (von Paul Verlaine; Übersetzung: H. Hinderberger u. P. Zech)
Dans l’herbe noire Durch schwarzes Kraut
Les Kobolds vont. Kobolde fauchen.
Le Vent profond Der Wind weint laut.
Pleure, on veut croire. Schornsteine rauchen.
Quoi donc se sent? Ruft uns nicht wer?
L’avoine siffle. Die Halme brausen ...
Un buisson giffle Gesträuch schnellt her,
L’oeil au passant. das Haar zu zausen.
Plutôt des bouges Armselig Grün.
Que des maisons. Spelunken, Häuser unbewohnt!
Quels horizons Schmiedwerke sprühn
De Forges rouges! am Horizont.
On sent donc quoi? Eine Stadt kommt nah:
Des gares tonnent. Dumpf donnern Brücken.
Les yeux s’étonnent, Schon Charleroi?
Où Charleroi? Welch ein Bedrücken!
Parfums sinistres? Geheul und Fluch
Qu’est-ce que c’est? bespein, durchtoben
Quoi bruissait den Schwefelruch.
Comme des sistres? Wer lärmt da oben?
Sites brutaux! Das Land liegt fahl
Oh! votre haleine, und atmet heiß
Sueur humaine, den Dunst von Schweiß.
Cris des métaux! Es schreit der Stahl.
Dans l’herbe noire Durch schwarzes Kraut
Les Kobolds vont. Kobolde fauchen.
Le vent profond Der Wind weint laut.
Pleure, on veut croire. Schornsteine rauchen.
Als Thiersch 1940 Charleroi erstmals sah, faszinierte ihn die Übereinstimmung der Realität mit dem inneren Bild, das er sich von der Szene gemacht hatte. "Da war das flackernde Licht der rot flammenden Hochöfen, die damals noch keine Haube hatten, da sah ich das grelle Türkis über den Abstichen und die zerrissene, schmutzig weißgraue Silhouette der Stadt mit den sie überragenden Fördertürmen, von denen sich manche zerstört und grotesk verformt im roten Gegenlicht vom Himmel abhoben. Diese Eindrucksfülle zum Bild werden zu lassen, wurde für mich allmählich zu einer Zwangsvorstellung ...“ 1968 sah Thiersch Charleroi erneut, und diese Begegnung gab den letzten Anstoß zu dem dann 1968 fertiggestellten Gemälde. Von herkömmlichen realistischen Bildern einer Industriestadt weicht diese Darstellung beträchtlich ab, man könnte sie als eine poetische Vision charakterisieren, die reale Details enthält, etwa eine hohe Häuserwand und den roten Widerschein der Hochöfen am Himmel. Zu einem seltsamen Ornament fügen sich einige beschädigte oder verbogene Maschinenteile und ein Kabel zusammen. Fast ein wenig verspielt wirkt dieses Detail. Das Haus rechts zeigt Risse im Mauerwerk, die leeren schwarzen Fensteröffnungen lassen erkennen, dass dieses Haus nicht mehr benutzt wird, ein verlassenes totes Haus. Ein Hauch von Vergänglichkeit erfüllt die Szenerie.
In kleinen Ideenskizzen pflegt Günther Thiersch seine Gedanken zu fixieren, ganze Serien möglicher Varianten entstehen oft dabei . Im Vergleich zum ausgeführten Bild zeigen sie eine größere, geschlossene Häusergruppe, in einer Skizze sieht man hoch oben eingebaut ein großes Rad, offenbar von einem Förderrad in einem Schachtturm inspiriert, bei anderen das Rad unten, auch der Hebel oben rechts findet sich schon angedeutet. Bei den erhaltenen Skizzen fehlt noch die ornamentale Verbindung von Radfragment und Hebel, die erst später hinzugefügt wurde, im Ensemble der ganzen Komposition wichtig für die eigenartige poetisch-romantische Stimmung, die seltsame Magie, die von dem Bild ausgeht.
Später hat Thiersch das Phantastisch-Surreale zugunsten sachlich-realer Eindringlichkeit aufgegeben. Thiersch selbst spricht von einer "technisch-surrealistischen“ und einer "technisch-realistischen Auffassung“ in seiner künstlerischen Entwicklung, an deren Wendepunkt das Gemälde "Charleroi“ entstand. Danach siegte das Empfinden für Ordnung, für klare Rationalität.
Gern stellt Thiersch technisches Gerät, Apparate, erfundene Maschinen, Messgeräte, Lampen, vor allem Rohrleitungssysteme dar, Relikte einer technischen Welt, sauber montiert, rechtwinklig verschraubt. Es ist eine kühle, sachliche Welt. Gebändigte, beherrschte Technik? Das bewusste Kalkül der Ordnung ist unverkennbar, scheinbar von der technisch exakten Konstruktion bestimmt, und doch darüber hinausführend, einer höheren Ordnung unterworfen. Wie bei einem Gemälde von Mondrian steckt oft ein strenges geometrisches Kompositionsschema hinter der vordergründigen Demonstration technischen Gerätes. Hinzu kommt, dass durch Licht und Schatten, durch Beleuchtungseffekte das rein Konstruktive mit einer alternierenden Komponente versehen wird. Das technische Ding kann stilllebenhaft in magischer Beleuchtung erscheinen, kann mittels malerischer Wirkungen einen latenten romantischen Zug erhalten oder auch kühl distanzierend verharren. Technische Gegenstände werden zuweilen in feierlicher Repräsentation wie Reliquien dargeboten. Gelegentlich fügt Thiersch ein kleines Detail hinzu, etwa ein Stück Brief, das die Beziehung zum Menschen herstellt, so wie ein Verirrter plötzlich wieder menschliche Spuren findet.
Gefährlichkeit und Nutzen der Technik, soweit diese nicht überhaupt als Symbol für moderne Lebensform schlechthin zu verstehen ist, sind ihm bewusst. Und so wie Mondrian oder einige Bauhauskünstler gestalterisch ihre Wohnungen dem Stil ihrer künstlerischen Konzeption anglichen, lebt auch Thiersch in einem Gehäuse, das seinen Bildvorstellungen entspricht, dem Chaos der Welt in seinem persönlichen Bereich die Idee der Ordnung entgegensetzend.