Günther
Thiersch
09. Juni 1914 - 17. Oktober 1986
Werner Klose
Studium der Germanistik und Geschichte
Studienkollege
Schriftsteller
'Schlesier'
St. Peter-Ording
Nachruf
Günther Thiersch 1914 -1986
Ein Maler aus Schlesien und Holstein
Der heftige Herbstwind drang am 23. Oktober 1986 von draussen in die grosse Oktogonkirche zu Rellingen ein, wo die Trauergemeinde Abschied nahm von dem Maler Günther Thiersch, der schon am Ende seines Studiums in Hamburg über diese Kirche ein Buch geschrieben hatte. Den Text veranschaulichen Illustrationen und Architekturskizzen des Autors. Wer sein Buch kannte, begegnete nun hier im barocken Achteck der Halle einem für Norddeutschland ungewöhnlichen Kirchenbau. Dass er schon den Kunststudenten Günther Thiersch zu einer genauen Untersuchung reizte, war kein Zufall.
Denn Günther Thiersch, gestorben in seinem freundlichen Haus in Pinneberg, kam aus Schlesien. Sein Lebenslauf, der im südlichen Holstein endete, hatte am 9. Juni 1914 in Neumarkt begonnen. Die alte Handelsstadt lag zentral in der niederschlesischen Ackerebene, und ihr Stadtrecht galt nach dem Vorbild von Magdeburg und Lübeck als beispielhaft für viele andere Gründungen, über Schlesien hinaus bis weit ins östliche Polen. Nach den gotischen Kirchen und Rathäusern Schlesiens war die Zeit der Habsburger, die über Böhmen und Schlesien geherrscht hatten, nicht nur architektonisch eine Blütezeit des Barock gewesen. Schlesien wurde auch in der Dichtung erstmals für ganz Deutschland wirksam durch seine barocken Poeten, die in pathetischen Romanen und wortmächtigen Versen die Schönheit, aber auch Vergänglichkeit des Lebens priesen und zugleich beklagten.
Der barocke Kirchenbau war also im Kontrast zur Gotik schon dem Gymnasiasten Günther Thiersch vertraut gewesen, und so nahm er in Rellingen eine Spur auf, der er schon in der Jugend gefolgt war, als er sich radelnd die Vorgebirge und die Sudeten selbst erwanderte und dabei überall den barocken Schlössern und Kirchen begegnete.
Auch der Beruf des Vaters, eines erfolgreichen Baumeisters, mag den Sohn später zur Kirche nach Rellingen geführt haben. Der Vater riet nach dem Abitur des Sohnes zu einem technisch orientierten Studium. So begann Thiersch in Danzig an der Technischen Hochschule im Fach Schiffbau zu arbeiten, doch lange hielt er es dort nicht aus. Schiffe ja, aber nicht, um sie zu bauen, sondern um mit ihnen das Abenteuer der Seefahrt zu wagen. 1936 trat er in die Kriegsmarine ein und durfte noch die weiten Friedensreisen der Kadetten und jungen Offiziere miterleben. Aber die Zeit der fröhlichen Landgänge in fernen Häfen brach jäh im Kriege ab, der auch sein Generationsschicksal wurde.
1943 war er bei einem Gefecht im Kanal schwer verwundet worden. Aber so kam er noch einmal nach Neumarkt zurück, um seine Frau Annelie zu heiraten, die fortan bis in die Stunde des Todes seinen schwierigen Lebenslauf begleitete.
1945 musste er, aus Kriegsgefangenschaft entlassen, im 32. Lebensjahr erneut als Student beginnen. Er studierte in Hamburg Kunst- und Werkerziehung und Geografie, um Lehrer zu werden. 1952-1972 war er Kunsterzieher und Geo graf am Bismarck-Gymnasium in Elmshorn, aus dem er als Oberstudienrat in Pension ging, als bereits sein drittes Berufsleben begonnen hatte. Für Günther Thiersch war die Tätigkeit des Lehrers an einem holsteinischen Gymnasium niemals Last und Umweg. Dem Buch über die Kirche von Rellingen folgten Studien zur Kunstgeschichte in einer pädagogischen Reihe und die Entwicklung neuer Lehrmittel für Geografie und Biologie. Thiersch trug mit Texten und mit Illustrationen dazu bei, die bewiesen, dass er naturalistisch zeichnen, aber auch geographische Landschaften in anschaulich konstruierten Querschnitten darstellen konnte. In diesen künstlerisch-didaktischen Aufgaben schien er ganz aufzugehen, bis er 1965 Kollegen und Freunde sensationell überraschte durch die erste Einzelausstellung von Gemälden im Neuen Kunstzentrum Hamburg. Zur Eröffnung waren Lehrer, Schüler und Nachbarn aus den ihm vertrauten Städten Elmshorn und Pinneberg gekommen, aber auch junges Volk aus der Hamburger Kunstszene, die frechen und extravaganten Paradiesvögel, typisch für jede Vernissage in einer Grossstadt mit eigener Kunstakademie.
Thiersch stand dort zwischen den so gegensätzlichen Betrachtern seiner Bilder, glücklich und doch in ernst gespannter Erwartung. Noch oft sah ich ihn so zwischen seinen Bildern und Gästen stehen bei grossen Ausstellungen: schlank und straff, wenn auch auf den Stock gestützt, dunkel gekleidet und so noch immer ein wenig erinnernd an den Seeoffizier, wie er überhaupt in Person und Werk immer alle Phasen seines Weges durch Leben und Welt vorwies. Das wird freilich dem Kundigen oft erst bewusst, wenn wie bei ihm dieser Lebenslauf zur Ruhe kam. Als er 1965 aufbrach in das letzte Drittel seines Lebens, war nicht vorauszusehen, wie reich sich sein Werk entfalten würde, das erst als Spätwerk begonnen hatte. Aber diesem Werk ging voraus eine lange Anlaufzeit des Nachdenkens, des Einübens und Probierens, der kunstgeschichtlichen Studien und ihrer Weitergabe im Unterricht. Ein guter Lehrer lernt im Lehren, und so brauchte er ,"nur“ noch zu schaffen und vorzuweisen, was sich an Einsicht und Erfahrung in ihm verdichtet hatte.
Er schuf Ölgemälde, Zeichnungen und Radierungen. Er gestaltete Objekte und war beteiligt an der künstlerischen Ausstattung von Schulen und Schulzentren in Holstein, hier ideal als Lehrer wissend, was vom Künstler erwartet wurde. In diesen Objekten für pädagogische Zweckbauten zeigte sich Günther Thiersch als stiller Humorist, der technische Spielmaschinen dem Spieltrieb der Kinder freigab, aber sie auch spielerisch lernen liess; in Objekten mit eingebauten Wetterstationen in Bönningstedt und Wedel, in "Verwandlungswänden" mit 30 bis 40 Veränderungsmöglichkeiten in der Realschule Thesdorf und der Grundschule Barmstedt oder gar in einem "Wasserspielobjekt" mit "wassertherapeutischer Funktion“ (1980) für die Kinder der Sonderschule G in Elmshorn.
Einzelausstellungen machten ihn in Elmshorn, Pinneberg, Kiel, Westensee und Sankelmark, bei allen Landesausstellungen und durch Bilder in der Kieler Kunsthalle und im Landesmuseum Schleswig bekannt als Künstler aus Schleswig-Holstein. Aber er war mit Einzelausstellungen auch in München, Frankfurt und Bonn erfolgreich, und mit zahlreichen Arbeiten war er z. B. in Braunschweig, Köln, Regensburg und Ludwigshafen dabei. Er wurde ausgezeichnet in Neapel, im Schloss Wörth und in der Künstlergilde Esslingen. In den letzten Wochen vor seinem Tode arbeitete der Schwerkranke unermüdlich an der Vorbereitung der Ausstellungen, die den Schlesier aus Schleswig-Holstein auch international zum Repräsentanten moderner deutscher Kunst machten.
Der Botschafter der Bundesrepublik Deutschland, Günther van Well, stellte sein Werk, unterstützt von Kultusminister Dr. Peter Bendixen, im Gebäude der Botschaft zu Washington vor. Die Initiative der Deutsch-Amerikanischen Gesellschaft in Rockville - Pinneberg sorgte dafür, dass der deutsche Schlesier aus Holstein auch in Pinnebergs Partnerstadt, nahe bei Washington gelegen, durch diese Ausstellung bekannt wurde. Gern wäre er hingeflogen, hätte dankbar diesen neuen Schritt zur internationalen Wertschätzung seines Werkes miterlebt.
Aber er kannte längst die Krankheit, an der er sterben musste. Die Ärzte hatten mit ihm gehofft, dass der Tod im Körper des Alternden nur langsam fortschreiten würde. So arbeitete er monatelang mit beispielhafter Tapferkeit und Zähigkeit gegen das Unvermeidliche an, und seine letzte Lebenskraft gab er für das Werk.
"Die unerbittliche Zeit" heisst eine Radierung (1978), die auch in Washington gezeigt wurde. Thiersch konstruierte das Bildmotiv als "Technisches Capriccio", wie er diese Gattung nannte, und bei Gemälden begnügt er sich oft mit dem lakonischen Signum "Technische Komposition". Das Blatt, das die "unerbittliche Zeit" darstellt, verbindet in einer kargen Andeutung von Landschaft mit Unkraut und verkrüppeltem Baum die nicht minder sterblichen Reste der Kultur, die wie am Rande von Müllkippen und Schrottplätzen funktionslos in einer toten Natur umherliegen: Mauertrümmer, eine brüchige Tempelsäule, ein noch immer leicht qualmender Schornstein ältester Technik und eine Maschine, beschädigt, die schon steht oder langsam im Leerlauf ausdreht.
Im Washingtoner Katalog folgen dieser Radierung fünf andere, mit denen Thiersch unser aller Bedrohung und Ende verdeutlicht. Wie Dramatiker das Spiel im Spiel bedeutsam herausheben, lieben die bildenden Künstler das Motiv des "Bildes im Bild". besonders bei Studien aus dem Atelier oder vor Spiegeln und spiegelnden Glasflächen. Günther Thiersch verfährt anders, indem er allen fünf Farbradierungen einen Stadtplan als Bildunterlage, auf einem Zeichentisch liegend, gibt. Der Betrachter erkennt Strassen, Eisenbahnen und Bauten in der Zeichensprache des Architekten, die auch der Zirkel auf dem Plan bestätigt. Auch dieser Plan, sozusagen Unter- oder Hintergrund jedes Bildes, verändert sich im Laufe der Bildfolge.
Der erste Plan ist links oben leicht eingerissen, sonst korrekt befestigt, scharf erkennbar. Der Zirkel liegt griffbereit unten links. Die Zirkelspitze verweist auf ein flüchtig auf den Plan geheftetes Blatt, das eine unbeschädigte Naturlandschaft skizziert mit Bäumen, Büschen und Gräsern am Fluss.
Der Untergrund des zweiten Blattes ist stärker beschädigt und nachgedunkelt, so dass man die Planzeichen weniger scharf sieht. Der Zirkel liegt nun rechts oben und sticht wie zwei Uhrzeiger zur Bildmitte. Auf die erste Naturskizze hat jemand eine zweite Skizze gelegt, offensichtlich die alte Flusslandschaft darstellend, aber nun entstellt zur Grossbaustelle, der die Bäume geopfert wurden. Bauschutt bedeckt die Wiese bis zum Flussufer, ragt aus dem Wasser.
Im dritten Blatt ist die Planzeichnung noch zerfetzter, hat sich der Zirkel wieder in Zeigerrichtung verändert. Auf dem Plan liegt ein neues Skizzenblatt, unter dem die früheren Skizzen sichtbar bleiben. Das obere dritte Blatt bildet ein Atomkraftwerk ab, eine Steilmauer sperrt es vom Flussufer ab. Ein Abfluss ist zum Fluss hin geöffnet.
Das vierte Blatt variiert alle bisherigen Motive. Der Plan ist erneut gealtert, ist rissiger geworden, der Zirkel spreizt sich drohend: Die Zeit ist vorgerückt. Auf den drei Skizzenblättern, nun grösser geworden und den Plan immer mehr bedeckend, ist das Kernkraftwerk am Fluss als Ruine sichtbar, die Sperrmauer vorn ist geborsten, die Treppe verfallen, und Trümmer ragen aus dem Wasser.
Auf dem fünften Blatt ist der Planuntergrund zerfetzt, spiesst sich der Zirkel oben in den eingerissenen Planrand, während der andere Schenkel des Zirkels zum Zentrum auf das nun letzte und grösste Skizzenblatt verweist. Die Naturlandschaft dieser Skizze ist jedoch nicht einfach die wiederhergestellte Flusslandschaft auf dem ersten Blatt. Die Natur hat nun aggressiv und zerstörend die Flusswiese verkrautet und verholzt und das Ufer versumpft. Die Natur ist ganz sich selbst überlassen, und es gibt vom Menschen als letzte Spuren nur noch dieses letzte Blatt mit Plan, Zirkel, den fünf Skizzen und dem darauf geworfenen Fetzen mit der Mahnung, dass alles die Zeit besiegt: "OMNIA VINCIT TEMPUS“.
Das Motiv der Vergänglichkeit, die Angst vor dem Tode und die beschwörende Darstellung der Sterblichkeit des Lebens ist so alt wie die Kunst. Bei Günther Thiersch wurde es zum Leitmotiv. Indem er die Technik als Industrieabfall zu funktions- und nutzlosen Maschinen neu montiert, gibt er dem Morbiden die präzise Komposition, die Leuchtkraft von Lichtschimmer auf Metall, stellt er gegen die Starrheit der Maschinenteile die faltige Bewegung von Tapetenstücken, von Lappen und Tüchern, eines Arbeitskittels, der an brüchiger Mauer hängt.
Die Plastizität seiner Bilder verdankt er ebenfalls diesen dargestellten Objekten. Vorn hängen an Ketten die Maschinenteile oder ragen montiert aus einer Wand heraus. Diese Wand wiederum kann bröckelndes Mauerwerk, rissige Tapete oder morsches Holz sein, und durch Risse und Löcher ahnt der Betrachter eine dritte, aber ihm verborgene Raumdimension. Thiersch gibt so dem Hässlichen und Absurden in der strengen Form und dem kalten Licht des dünnen Farbauftrags eine karge Schönheit. Er hält dem Vergänglichen stand, indem er es stilisiert.
Schwer und gefährlich, ein solches Werk auch regional einzuordnen. Der vertriebene Schlesier war auch als neu verwurzelter Holsteiner kein Heimatmaler des Hamburger Umlands. Sicher sind jedoch alle Lebensphasen im Werk nachzuweisen. Die schlesische Jugend mit der Erfahrung des frühen Abschieds, dann die jahrelang ihn umgebende Maschinenwelt der Kriegsschiffe, Symbol auch für die Zerstörung der Technik durch Technik und den Zugriff der Technik auf die Natur. Nachweisbar ist auch der Kenner der Kunstgeschichte, der die Epochen und die Stilmittel der Malerei kennt, lehrt und selbst verwendet. Nachweisbar mag am Ende auch die neue Heimat in Holstein geworden sein, wo er im Hamburger Umland die Zerstörung der Landschaft durch das "Ballungszentrum" der nahen Hafengroßstadt sah und im Werk reflektierte.
So ist der Maler, der in jungen Jahren eine Heimat in Schlesien verlor und für sich und seine Familie eine neue Heimat in Holstein gewann, auch ein Mahner, der kritisch die Spannung zwischen Natur und Kultur darstellt. Aber er wäre nicht der stille, friedfertige und freundliche Mann geblieben, als den wir ihn kannten, wenn es ihm nicht gelungen wäre, seine Kritik zu stilisieren in der Selbstdisziplin der strengen Komposition und der verhaltenen Leuchtkraft seiner Bilder.
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Günther Thiersch
Portraitphoto Paris 1943