Günther
Thiersch
09. Juni 1914 - 17. Oktober 1986
Zum Vergrößern des Bildes bitte in das Bild klicken.
Portrait Günther Thiersch, Bleistiftzeichnung, 5x 6 cm,
von Pedro Lima, Paris
1943
Hagen Rudolph
Journalist
Auor
'ehemaliger Bismarckschüler'
Wiederbegegnung
Gedanken eines ehemaligen Schülers vor Bildern von Günther Thiersch
Es war 1965 bei seiner ersten Ausstellung in Hamburg. Natürlich habe ich versucht, ihn in seinen Bildern wieder zu erkennen. Das war ja der besondere Reiz an der Sache. Jahrelang hatte er sich an der Bismarckschule in Elmshorn alle Mühe gegeben, uns Kunst verständlich zu machen. Er hatte uns modellieren, malen und zeichnen lassen. Er hatte uns in die Kunstgeschichte eingeführt, Künstler vorgestellt und ihre Werke analysiert und bewertet. Jahrelang war er in der Rolle des Gutachters und des Richters gewesen.
Nun aber war es anders. Er hatte gemalt und damit die Rollen gewechselt. Der Richter war zum Delinquenten geworden. Jetzt hatte er sich Gutachten, Beurteilungen und Interpretationen gefallen zu lassen. Und zwar auch von seinen ehemaligen Schülern. Wobei für jeden von uns natürlich am interessantesten sein musste festzustellen, wieweit der Maler Günther Thiersch mit dem Lehrer Günther Thiersch identisch ist.
Ich habe ihn damals in seinen ersten Bildern überhaupt nicht wiedererkannt. Ich empfand sie als erschreckend und deprimierend. Diese morbiden Maschinen-Wesen, diese bedrohlichen Monster in den aufregenden Farben, diese Albträume von einer verrottenden Maschinenwelt – sie passten überhaupt nicht zu dem schöngeistigen, feinsinnigen und abgeklärten Menschen, der da in jeder Woche ein oder zwei Stunden vor uns gesessen und mit leiser Stimme die Aufgeregtheiten anderer Künstler erläutert hatte. Landschaften hätte ich von ihm erwartet, oder vielleicht Stillleben, in denen zum Beispiel ein distanziertes Blau vorherrscht, das mit zurückhaltendem Gelb und vorsichtigem Orange etwas freundlicher gestimmt wird. Aber doch nicht diese laute, rote, wütende Verzweiflung.
Und noch etwas anderes kollidierte mit dem Thiersch-Bild in meinem Kopf. Es war das übergroße Gewicht, das die Aussage hier hatte. Der Lehrer Thiersch hatte immer wieder und immer wieder betont, dass gerade Inhalt und Aussage gar nicht so wichtig seien, dass vielmehr entscheidend für das Kunstwerk immer das Ästhetische, das Formale sei. Wo aber war das hier? Die Aussage, der schreiende Kulturpessimismus stand so weit im Vordergrund, dass außer ihm nichts mehr zu hören war. Jedenfalls für mich nicht. Zurück blieben zwiespältige Empfindungen. Ich war betroffen, die Bilder hatten weh getan. Offenbar war der Maler hier auf einen empfindlichen Nerv, auf unbewusste Ängste gestoßen. Andererseits aber: dieser Maler war offenbar gar nicht mein ehemaliger Kunsterzieher.
15 Jahre später, 1981, sahen wir uns wieder. Wieder bei einer Ausstellung. Er malte nicht mehr so wie damals. Die Bilder waren zurückhaltend, kühler, sachlicher geworden, irgendwie intellektueller. Und da begann ich allmählich, ihn zu finden.
Zwar: die Motive, die Inhalte vor allem seiner Ölbilder, haben noch immer nichts mit dem Lehrer Günther Thiersch zu tun. Der ist damals stets mit großen Kunstbänden in den Klassenraum gekommen und hat sich und uns mit den Schönheiten von Gauguin, Manet, Cézanne, Lautrec, Picasso, Chagall und vielen anderen beschäftigt. So was färbt in den Augen von Schülern doch mit der Zeit ab.
Aber was malt er jetzt meistens? Bröckelnden Putz, rissige Wände, Rohre, Ketten, Räder, Maschinen. Wie kommt ein Mann mit einem so technikfernen Beruf bloß dauernd auf solche Motive? Meinem Bruder, der bei der Marine ist, geht ein Licht auf, als er hört, dass Thiersch früher mal bei der Marine gewesen ist. „Alles klar“, sagt er, während er vor Thierschs Ölbildern aus den 80er Jahren steht, „er war unten an der Maschine. Daher!“
Na eben nicht. Er war oben, wo das Wasser der beherrschende Eindruck ist. Und damit führt diese Idee nicht weiter. Ich gebe es auf, dem Ursprung der Motive auf die Spur zu kommen.
Wiedererkannt habe ich ihn daran, dass die Farben jetzt leiser und die Formen klarer und geometrischer sind, wenngleich das Dunkle und Schwere den Lehrer noch immer nicht charakterisiert. Düster ist er uns nie gekommen. Vor allem aber darin bestätigt der Maler von heute den Lehrer von damals, dass die Moral seine Bilder nicht mehr überstrahlt. Natürlich ist die Aussage noch da. Der Kulturpessimismus, der in zerfallenden Mauern, zerknülltem Papiere, Maschinen, die nicht funktionieren, wichtigtuerischen, aber sinnlosen Messgeräten zum Ausdruck kommt, der ganze Kummer über eine sich verselbständigende, dem Menschen immer fremder werdende Technik ist unübersehbar. Aber das Gewicht des Formalen, der intellektuelle Anteil ist stärker geworden. So sehen es zumindest meine Augen.
Und da erkenne ich auch den Lehrer wieder, der uns damals den für Schüler unglaublich ärgerlichen, weil mit mehr Kopfarbeit verbundenen Grundsatz einzurichten versucht hat, dass es in der Kunst am Ende immer auf das Wie ankommt. Nicht darauf, ob uns das Was und das Warum einer Sache gefällt, sondern darauf, wie das Was und Warum angeordnet, in eine Form gebracht wird.
So etwas ist für Schüler, auch wenn sie kurz vor dem Abitur stehen, nicht ohne weiteres nachvollziehbar. Die meisten lesen Shakespeare, wenn sie ihn überhaupt lesen, nicht deshalb, weil sie an Sprache und genialer Dramaturgie Spaß haben, weil ihnen das Erkennen formaler Zusammenhänge Lustgewinn bringt, sonder sie lesen ihn, weil die Geschichten spannend, komisch oder tragisch sind. Dass Kunst ästhetischen Gesetzen gehorcht ist uns als Gedanke zwar nicht fremd, aber doch unwichtig gewesen. Dass Künstler ihre Werke in der Regel konstruieren, wochenlang, monatelang an Details feilen, sich womöglich von der Lösung formaler Probleme abhängig machen könnten, ist uns geradezu absurd vorgekommen. Der Muff der hektischen 50er Jahre mit den falschen Gefühlen und der mangelnden intellektuellen Verarbeitung , die Reste des romantischen Geniekults, wonach die Kunst aus dem Künstler kraft göttlicher Inspiration einfach so heraussprudelt – das alles hat erst noch aus unseren Köpfen vertrieben werden müssen.
Ich erinnere mich an einen erregten Streit mit unserem Deutschlehrer, den ich verdächtigte, uns vom Wesentlichen abzulenken, indem er uns mit Vorlesungen über so nebensächliche Dinge wie Hebungen und Senkungen in Gedichtzeilen, mit der albernen Zählerei von Versfüßen oder mit der Diskussion über Jamben und Hexametern behelligte. Und ich erinnere mich an eine Auseinandersetzung mit dem Kunsterzieher Thiersch, der mich mit seinem Beharren auf dem formalen Aspekt so verunsichert und auf die Palme gebracht hatte, dass ich ihn aufforderte, uns dann doch endlich mal zu sagen – und zwar kurz und knapp – was denn nun eigentlich Kunst sei. Wenn das befolgen ästhetischer Gesetze wirklich ausschlaggebend sei, dann müsse es ja eine klare unmissverständliche Definition geben, nach der jeder, ich zum Beispiel auch, Kunst machen und Kunst erkennen könne.
Ich wollte ein Rezept, eine Schablone.
Ich weiß nicht mehr den genauen Wortlaut der Antwort, die ich bekommen habe, aber es ist etwas in der Richtung gewesen: Kunst ist dann Kunst, wenn sie Kunst ist. Das war nun zwar ganz besonders frustrierend, brachte mich aber, weil Thiersch die Tautologie ernst zu meinen schien, wieder zum Nachdenken und von dem verführerischen Weg herunter, Kunst als Kunsthandwerk misszuverstehen, bloß weil ein Künstler sein Handwerk können muss.
Und dann erkenne ich ihn daran wieder, wie er auf sein Publikum zugeht. Früher sind wir, die Schüler, das Publikum gewesen, heute sind es die Betrachter seiner Bilder.
Er hat uns damals alle Freiheiten gelassen. Wir konnten ihm zuhören oder auch nicht, es war unsere Entscheidung. Wer sich mit anderen Dingen beschäftigen, wer Hausaufgaben machen, über Gott, die Welt, die neue Liebschaft oder die letzten Fußballergebnisse sprechen wollte, was wechselnde Gruppen in den Ecken auch taten - na schlecht, sollten sie es eben tun. Strafandrohungen, Zwang verabscheute er.
Thiersch machte Angebote, mehr nicht. Wer sich mit der Kunst, die er uns präsentierte, beschäftigte, bekam Hilfestellungen. Erkenntisse waren, bitte schön, selbst zu erarbeiten. Dafür allerdings war freie Diskussion Voraussetzung. Was wahrscheinlich auch der Grund dafür ist, dass der Kunstunterricht in meiner Erinnerung einen erfrischenden Hauch von Chaos hatte. Reaktionen und Deutungen in allen Richtungen waren eben erlaubt, ja sogar erwünscht. Indifferenz galt als Bremse für jede Erkenntnis.
Das ist so geblieben. „Nein“, sage ich heute zu dem Maler Thiersch, „dieses Bild gefällt mir nicht. Es ärgert mich. Es ist mir zu pessimistisch“ – „Sehr schön“, antwortet er lächelnd, „es ärgert Sie. Das ist doch schon was!“ Womit ich die Antwort auf das Problem eben doch wieder bei mir suchen muss. Oder ich gehe mal frontal auf ihn los. „Einige Ihrer Bilder sind voller Resignation. Da ist alles ohne Hoffnung, alles so düster, dass selbst der triste, graue Schatten eines Baumes, der auf die Wand fällt, belebend wirkt. Was da überkommt, ist doch deprimierend, dieses Gefühl: alles Scheiß!“ „Ja“, hält er ein bisschen ironisch dagegen, „ist es denn nicht so: alles Scheiß?“
Da dämmert es mir. Besonders optimistisch ist er nie gewesen. Und dass wir den Kulturpessimismus nicht erkannt haben, liegt daran, dass er ihn in unserem Interesse als Skepsis getarnt hat. Eine no-future-Haltung kann Schüler ja nicht viel weiterbringen.
Größte Schwierigkeiten macht mir die Schattenperspektive, die auf seinen Bildern vorherrscht und die unter Kritikern als das Erkennungszeichen von Thiersch gilt. Ich muss gestehen, dass ich sie überhaupt nicht wahrnehme, wenn ich nicht direkt darauf hingewiesen werde. Meine Augen sind an die Zentralperspektive gewöhnt und wenn die mal nicht da ist, täuscht mich mein Gehirn, indem es die Schatten zu Fluchtlinien umbiegt. Dann stimmt wieder alles.
Dennoch könnte auch in der Tatsache, dass er die Schattenperspektive benutzt, der Thiersch von damals erkannt werden. Seine Bildinhalten sind unwirklich, die funktionslosen Maschinen, das Gefüge der Rohre, Ketten und Räder – das alles ist erfunden und künstlich und kommt so in der Realität nicht vor. Wenn also hinter dem Gebrauch der künstlichen Sehweise die Idee steckt, die Unwirklichkeit der Bildinhalte mit einem formalen Mittel für Unwirklichkeit zu verbinden, dann würde das zu seinem Credo passen, wonach die Form dem Inhalt zu entsprechen hat. Es würde konsequent sein – und originell.
Und Originalität gehört dazu. Auch das ist etwas, was er uns beigebracht hat. Dass zum Beispiel selbst die zu hundert Prozent mit dem Original übereinstimmende Kopie eines Kunstwerks kein Kunstwerk mehr ist. Dass einer, der heute wie Mozart komponiert oder wie Goya malt, noch lange kein Künstler ist und Kunstwerke produziert, selbst wenn seine Arbeiten formal und inhaltlich fehlerlos wären. Das es also ohne Originalität, ohne die geistige Leistung der Entdeckung des Neuen, des Erstmaligen keine Kunst gibt, sondern nur Kunsthandwerk.
Aber wenn ich die Schattenperspektive doch gar nicht bemerke?
Das muss nicht gegen sie und ihre Funktion in den Bildern von Thiersch sprechen. Vielleicht macht sie einen Teil der mir unbewussten Bildwirkung aus. Vielleicht ist sie es, die mich irritiert und provoziert, so dass ich mich mit den Bildern beschäftige und über sie nachdenke.
Womit dann das Ziel erreicht ist, dass die Kunst durch den Kopf geht und dort einen Erkenntnisprozess in Bewegung bringt. Und mehr können sich die beiden, der Lehrer und der Maler, als Ergebnis ihrer Bemühungen eigentlich gar nicht wünschen.