Günther
Thiersch
09. Juni 1914 - 17. Oktober 1986
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Portrait Günther Thiersch, Bleistiftzeichnung, 5x 6 cm,
von Pedro Lima, Paris
1943
Karl Otto Rickers
Künstler
Journalist
1985 Träger des 'Kulturpreis
der Landeshauptstadt Kiel'
Einführung zur Ausstellung am 08. Februar 1981 in der 'Galerie unterm Dach', Pinneberg
Zum Werk des Malers Günther Thiersch
Das künstlerische Werk des Malers Günther Thiersch scheint beim ersten Anblick leicht überschaubar. Es ist nichts Verworrenes darin, und, mindestens in den Werken des letzten Jahrzehnts, nichts Exzessives, das eine Deutung erschwert. Man sollte in der Tat auch zunächst versuchen, das Einfachste darin zu erkennen; etwa die Motivwahl. Im Zentrum stehen Dinge aus der Welt der Technik, irgendwelche Geräte und Maschinen, bevorzugt aber Ketten und rechtwinklig geführte Rohrleitungen. Bei näherer Prüfung ergibt sich, dass es Phantasiemaschinen und -geräte sind, also keine Abbildungen realer Dinge. Sie sehen nur so aus, aber in Wirklichkeit würden sie nicht funktionieren können, jedenfalls nicht im technischen Sinne – sehr wohl aber in einem anderen, nämlich im künstlerischen.
Thiersch rückt sein jeweiliges Gerätemotiv derart ins Bild, dass eine magische Wirkung davon ausgeht, eine Wirkung im Raum. Alle seine Geräte sind als künstlerisches Motiv streng raumbezogen, und diesen Raum muss man sich näher ansehen. Er ist nämlich ebenso wenig wirklich wie die Geräte und Maschinen. Was man auf den Gemälden und auf manchen graphischen Blättern sieht, das sind gedachte, sind erfundene Räume, die nur für das Bild Gültigkeit haben. Wo das Bild endet, da hört auch jener Raum auf, in dem der erfundene Gegenstand sich meist schwebend oder hängend und jedenfalls ohne festes Fundament optisch behauptet.
Diese von Thiersch im Bilde konzipierten Räume haben noch eine weitere auffällige Eigenschaft: Sie leiten den Blick nicht in die Tiefe. Sie sind vielmehr schon kurz hinter den schwebenden Motiv-Gegenständen zu Ende. Man meint, das nach Augenmaß ausmessen zu können; so etwa zehn, zwölf Zentimeter vielleicht, dann trifft man auf die Wand. Dann steht der Blick vor einer ebenen Fläche, die ihm ein deutliches Halt gebieten. Diese ebene Fläche ist nicht abstrakt, sondern sie ist sehr deutlich als Wand gemalt, auf die Schatten fallen. Es sind zumeist die Schatten der dargestellten Geräte, und neuerdings auch häufig Licht und Schatten eines unsichtbar bleibenden, unterteilten Fensters.
Licht und Schatten in den Gemälden haben nun ganz bestimmte Eigenschaften, sie sind nämlich konstruiert, wie auch schon die gerätehaften Zentralmotive. Sie sind wie in einem vorgeschriebenen Beleuchtungswinkel auf die Wand geworfen, so, wie die Techniker es in ihren Projektionszeichnungen ja auch machen, wenngleich mit anderen Absichten, Schatten und Licht sind bei Thiersch gestaltende Elemente des gedachten Raumes. Sie wiederholen einen Gegenstand, der plastisch und farbig gemalt wurde, als graue Fläche mit diffusen Rändern. Man erlebt die Wand als getreues Echo der gemalten Gegenstände. Freilich ist es eine bedrückende Konkordanz, die sich hier ergibt. Es ist eine Konkordanz von scheinbarer Drei- und Zweidimensionalität, von Farbigkeit und Farblosigkeit. Es ist – um einmal ein aufwendiges Vokabular zu bemühen – die Konkordanz von Leben und Tod.
Diese Funktion, nämlich Träger von Schatten und Licht zu sein, kann man vor den hintergründigen Wänden der Gemälde von Thiersch unschwer erkennen. Aber noch etwas anderes ist für jedermann erkennbar: Die Wände sind farbig gemalt, aber die Farbe hat alle Kennzeichen der fortwirkenden Zersetzung. Und sie sind zwar eben, aber rissig und im Zustand des Verfalls. Der Kontrast zu den scheinbar perfekten und intakten Gegenständen und Geräten im Vordergrund der Gemälde ist überdeutlich. Und selbstverständlich ist auch dies ein Hinweis auf Tatbestände des Zerfalls, denen eine noch so perfekte Technik nichts entgegenzusetzen hat. Man mag das meinetwegen symbolisch nehmen, im Sinne der Vanitas- Stilleben des 17. Jahrhunderts, aber dafür sind die Thierschen Gemälde wohl zu wenig allegorisch aufgezäumt. Allerdings geht es um Inhalte, die mit unserer Skepsis gegenüber der Standfestigkeit des Zeitalters der Technik zu tun haben. Unter diesen Vorzeichen wird in den Bildern dieses Künstlers eine Welt aufgebaut, für die er sich aller möglichen Elemente der Wirklichkeit bedient, um dennoch daraus eine tatsächliche Über-Wirklichkeit zu destillieren, so etwas wie eine gefrorene Wirklichkeit, die auch uns frieren macht, als wären wir in einem tiefen Keller, in dem das Außen der Welt nicht mehr gilt, ein Verlies, in dem sich die Bedingungen der Existenz verwandeln, auf eine kaum erkennbare, aber doch Beklemmungen erzeugende Weise.
Ich will das noch für einen weiteren, eng damit verbundenen Aspekt der Thierschen Bildwelt erläutern, nämlich an der Perspektive. Ich verwende das Wort Perspektive, aber eigentlich ist es ein Verzicht auf Perspektive, der hier stattfindet. Exakt allerdings kein Verzicht, sondern eine Erzeugung räumlicher Eindrücke durch pseudoperspektivische Mittel. Verzichtet allerdings wird radikal auf die sogenannte Zentralperspektive, jene also, die uns heute so vertraut ist, weil sie die Verkürzung der Entfernungen und die Verkleinerung der wahrgenommenen Dinge in der Tiefe des Raumes so überzeugend wiederzugeben vermag. Dies alles aber, dies Zusammenlaufen der Fluchtlinien in den imaginären aber konstruierbaren Fluchtpunkten, gibt es im Bildwerk von Thiersch nicht. Es gibt etwas anderes. Ich sprach von pseudoperspektivischen Mitteln, die Thiersch anwendet, und zwar sehr bewusst und mit dem Ziel einer andersartig gebundenen Räumlichkeit. Thiersch konstruiert Schatten und Schlaglicht nach einem System, das man Parallelperspektive nennt. Das aber ist eine begrifflich unechte Perspektive. Sie ist gut geeignet für manche technischen Darstellungszwecke. Hier jedoch wird sie entschlossen und hartnäckig für einen künstlerischen Zweck ausgebeutet. Am deutlichsten wird dies wohl bei der Darstellung der Licht- bzw. Sonnenreflexe auf den Wänden, denn da kann man es nachprüfen. Es gibt zum Beispiel in dem schräg gesetzten Lichtabbild eines Fensters auf der Wand in der Regel nämlich keine Verkürzungen, wie wir sie zu sehen gewohnt sind nach dem System der Zentralperspektive. Es gibt vielmehr nur Parallelen, die keine Wirklichkeit für unser Auge bereithalten.
Diese Nicht-Perspektive ist ein wichtiges Element in der Malerei von Thiersch, sie fügt sich den Unwirklichkeiten oder Scheinwirklichkeiten der erfundenen Gegenstände und der konstruktiven Räume an. Das System dieser Darstellungsweise ist in sich geschlossen, und es ist nicht technischer auch nicht maltechnischer Natur. Es geht hierbei um ein Weltverständnis, das aus der geschichtlichen Entwicklung resultiert. Es sei sogleich angemerkt, dass der Maler hier nicht missioniert. Er will uns – so verstehe ich ihn – nicht von der Unhaltbarkeit etwa des kopernikanischen Weltbildes überzeugen, aber er spricht – oder malt – hier zum Thema: Kopernikus und die Folgen. So einfach nämlich war es eben doch nicht, die Erde aus dem Mittelpunkt der Welt und den Menschen aus dem Mittelpunkt des Daseins hinaus zu katapultieren. Die Beziehung zum Thema dieser Malerei ist eng, denn ich spreche hier von der Zentralperspektive als dem darstellungstechnischen und künstlerischen Begleitmotiv zur astronomischen Revolution der Renaissance. Es war eine umfassende Revolution, denn mit dem kopernikanischen System wurde uns der Unendlichkeitsbegriff als physikalisches Faktum eingeimpft, und das ist unwiderruflich. Der Begleittext hierzu aber war die Zentralperspektive des Quatrocento. Die Welt begann unendlich zu werden und die Perspektive wurde als Unkendlichkeitsfaktor in der Malerei wirksam. Die Perspektive war keine Erfindung, sie war eine Entdeckung wie der Kreislauf der Planeten und sie brachte eine Umwälzung in der Malerei. Man sieht daran: die Kultur der Renaissance war etwas Übergreifendes, es ging nicht um einen Teilbereich des Existentiellen, den man Wissenschaft nennt, sondern um den Zusammenhang allen Geschehens.
Dies zum Welt- und Kulturverständnis. Aber nun zurück zu den Besonderheiten der Thierschen Malerei, die, das ist handgreiflich, von der Technik herkommt und immer wieder auf ihre Themenkreise zurückgreift. Selbstverständlich begnügt er sich nicht mit dem ästhetischen Reiz, den jede technische Zeichnung hat. Das Ästhetische in der Technik ist nicht sein Ziel. Er gelangt in seiner Malerei darüber hinaus zur Darstellung der Veränderlichkeit alles Technischen im Schwerefeld der Zeit. Die scheinbar perfekte Nur-Technik wird bei ihm übertönt und überwuchert durch Vergänglichkeit, die alles erfasst. Hier erst entstand seine eigene Ästhetik. Die Gemälde der ersten bewussten Schaffensjahre – etwa 20 Jahre zurückliegend – waren von anderer Natur. Zwar, auch dort war Zerfall das Grundthema, aber es war nicht verknüpft mit dem Allgemeinen. Es war isoliert. Es war eine Art Bestiarium zerfallener Maschinen und Geräte, und im Zerfall verwandelten sich die Reste des Technischen in die Reste von etwas scheinbar Organischem. Darin entwickelte sich dann eine neue Ästhetik, die etwa in einem Gemälde wie der in sich schlüssigen Musikmaschine gipfelte, in der demonstriert wird, dass der Zerfall Neues, Anderes zum Klingen bringt. Vielleicht ein Widerspruch in sich, etwa resignative Hoffnung ?
Gleichwie, heute sehen die Dinge und ihr Zerfall bei Thiersch anders aus. Wohl weniger zerfallsromantisch, aber sicher hintergründiger in der Enthüllung von Wesensformen unseres Daseins. Manches von damals wird womöglich gar ironisierend, so etwa die Transformation der zerknitterten organischen Reste in die zerknitterten und fast salopp aufgespießten Papierblätter von heute. Vordergründig erscheint in vielen neueren Werken ein spezifisches Enthüllungs- und Verschalungssystem. Zwei oder auch noch mehr parallel hintereinander liegende Wandflächen lassen erkennen, dass hinter allem immer noch irgend etwas liegt. Thiersch enthüllt dies "Irgend etwas" nur teilweise, wie durch ein kleines Fenster in der Wand in die nächste der Wandebene hineingesehen. Gelegentlich reißt er die Tapete der obersten Wandschicht auf und macht die nach oben gebogenen Papierfetzen zu einer Art Kartusche, in der nun die zweite Wandebene präsentiert erscheint – vielleicht auch die dritte und vierte, wer weiß es? Und was zeigt sich dann? Wiederum Technik, Gerät und Ketten und zerfallene Wände . Besteht die Welt aus Zwiebelschalen des in Ebenen funktionierenden Zerfalls? So fragt man sich – und erlebt Urängste, an die unsere Kunst immer gerührt hat. Ich meine – und möchte damit abschließen – dass Thiersch seine eindrucksvollen künstlerischen Mittel nutzt, um auf risikobehafteten Wegen die vordergründig scheinbar einfachen, in Wahrheit stets in Transzendenz ausufernden Daseinsbedingungen menschlichen Lebens aufzuzeigen.